Psychoanalytiker und Immoralist – Zu Otto Gross (1877-1920)

Wer den Anfängen der Psychoanalyse gedenkt, denkt zunächst an Urvater Sigmund Freud, bei einer intensiveren Ausdeutung der Analyse an seinen Schüler Carl Gustav Jung. Otto Gross, Zeitgenosse und Kollege beider, bleibt hingegen Randfigur. Dem breiten Publikum dürfte Gross am ehesten über David Cronenbergs A Dangerous Method (2011) bekannt sein. Gespielt von Vincent Cassel wird er dort als polyamorer Sozialrevolutionär portraitiert, der von Kollege C.G. Jung therapiert werden soll, dann aber über die Mauer der Psychiatrie flieht. Ganz falsch ist dieses abenteuerliche Bild nicht. Otto Gross war eine unstete Persönlichkeit. 1877 in der Steiermark geboren, publizierte er früh zusammen mit seinem Vater, dem Juristen Hans Gross, entwickelte als Psychoanalytiker aber früh eigene Ideen und stand seinem Vater wie auch der klassischen Psychoanalyse nach Freud bald kritisch gegenüber.
Für Otto Gross bietet die Psychoanalyse nicht nur das Potential, das Individuum zu heilen, sondern gleich die ganze Gesellschaft. Die ist für Gross in ihrer zeitgenössischen Form
ein patriarchales System, das als fremdes Element bereits die Psychen seiner Kinder korrumpiert und verstört. Viele seiner Thesen lesen sich noch heute aktuell, waren damals also schierer Sprengstoff. Gross argumentierte gegen das übliche Vaterrecht und für ein Mutterrecht, eine Befreiung der Frau aus dem versklavenden Bund der Ehe. Ja, als Anarchist, der mit Erich Fromm verkehrte, auf dem Monte Verità zeitweise in einer Kommune lebte und offene Beziehungen hatte, kann man sich den Mann eher in der Hippie-Ära als im pickelhaubigen Kaiserreich vorstellen. Entsprechend kritisch wurden Werk und Leben des abtrünnigen Psychoanalytikers auch wahrgenommen. 1913 wurde Gross auf Wunsch seines Vaters zeitweise in einer psychiatrische Anstalt interniert und blieb bis zu seinem plötzlichen Tod 1920 in Berlin entmündigt. Wer die Lebensgeschichte Otto Gross‘ liest, blickt nicht nur in einen aufregenden Geist, sondern erfährt auch, wie explosiv Wissenschaft, Kunst und Kultur bereits im wilhelminischen Kaiserreich zusammen wirkten. Expressionismus als Lebensentwurf.

Dergestalt, 2019.

Hebephrenie

Loslassen, aber nicht torkeln. Loslassen, aber nicht. Loslassen, aber. Loslassen.
Im Abglanz der Hochhäuser sehe ich, dass ich organisch bin. Mit einer Schere schneide ich an meinem Körper, mit meinen Händen forme ich den Klumpen. Als die Form geschichtet ist, glänzt Sonne in den Türmen. Mein Atem geht kürzer und mein Körper ist zerstört. Über viele Bahnen gerät noch Sauerstoff in meine Lungen, kommt noch Blut an die wesentlichen Orte. Neben den Abgasen aber werden die Wunden schmutzig und schwarz. Mein Klumpen nur strahlt für sich und bleibt unberührt. Kinder, Kaufmänner und ein Einkaufswagen gleiten an ihm vorbei. Ich kann schauen und ihn alleine lassen. Loslassen kann ich ihn nicht.
Ich stehe vor einer Wand, die ich nicht abtragen werde. Meine Blutung beginnt jetzt. Was auch immer in der Luft ist, vergiftet mich. Wir müssen nur wenig von uns abtragen, um wirklich zu verbluten. Der Rest bleibt Klumpen und hoffentlich in dieser Welt.

Dergestalt, 2019.

Vor vier Jahren / Vor vier Minuten

Draußen wird bestäubt und nicht gekehrt. Wenn ich morgens, möglichst nach dem Morgentee, vor die Türe gehe, weht mir schon der leiseste Wind Pollen durch den Schädel. Ich komme mit rotem Gesicht zurück und erzähle dir von meinem Tag. Und wenn du fragst, was nach dem Morgentee noch kommt, streichle ich nur mit einem Finger über deine Wange.
Den Rest der Woche versperren wir unser Haus. Mir wird schon übel, wenn ich nur aus dem Fenster sehe. Da liegen die Wolken gereizt über dem Land und entladen sich in Blütenstaub. Vor vier Jahren, das hast du mit harter Stimme gesagt, fing es also an. Ich zittere über deinen Worten und kann mir kaum eine Zigarette drehen. Die rollt aus meiner Hand und hinter meinem Schädel rollt der Donner. Ich sage dir: Vier Minuten brauche ich für eine Zigarette und die lege ich beiseite. Zu Beginn der nächsten Woche hole ich sie hervor, rauche ein wenig vor, rauche ein wenig nach dem Morgentee, töte die Pollen in meinem Schädel. Und wenn du wieder fragst: Nein, meine eine Hand hat nur einen Finger und mit der anderen schiebe ich die Wolken übers Land.

Dergestalt, 2019.

Generation

Erst im Kreis angeordnet, fallen die Kinder zusammen. Die Köpfe sind schwer, rauschen voran, dann folgen die Körper, die Beine knicken zuletzt. In der Mitte ist ein goldener Kreis, dort, wo die Köpfe zusammenstoßen. Vor dem Fall gibt es da einen Blitz, eine letzte Ordnung. Eingeschrieben steht in den Stirnen: „Wehe euch, da ihr fallt.“ Aber dann stoßen die Köpfe nur aneinander, dann fallen sie eben, die Kinder, und sie fallen lose. Staub liegt in der Luft, müde ist alles vom ständigen Verzehr.
Neben diesem Zirkus, der etwas von Weltvergessenheit hat, stehen einige Kinderwägen. Die sind leergeräumt, auch einiger Rost ist zu sehen. Natürlich macht sich keiner Vorwürfe, meist sind die Traurigen eh schon tot, aber ein bisschen wehmütig darf man schon werden.
Nun, letztlich ist es Aufgabe der Reinigungskräfte, den Platz zu räumen. Zunächst die Kinderwägen, dann einige Meter weiter durch den Staub, die Körper mitgenommen und am Ende und bis zum Horizont nur immer weiter. Die Schaufeln sind groß, die Ladeflächen auch und irgendwann ist Feierabend. Ja, ganz traurig wird keiner, denn für irgendwen geht die Sonne immer unter.

Dergestalt, 2019.

Der Mensch in chemischer Offenbarung

Gerne, gerade gegenüber Tier und Pflanze, behauptet der Mensch seine Überlegenheit. Die rührt für ihn ganz deutlich und auch innerlich nachfühlbar aus dem grenzenlosen Selbst- und dann auch Weltbewusstsein her, das ihn auszeichnet, qualifiziert und stets auch selbst repariert. Das ist aber falsch und basierend auf dem eigenen, durchweg begrenzten Bewusstsein auch fahrlässiger und willkürlicher Natur. Der Mensch öffnet sich dem Chemischen der gesamten Welt wie jeder andere Organismus. Abgrenzungen sind erdacht, aber niemals wirklich. Darum kann er sich eben nicht von der feinen Luft, dem harten Gestein, dem Fell des lieben Haustieres scheiden. Verschiedene chemische Massive mag man da erkennen, das mag auch fein sein. Tatsächlich aber ist die bewusste Spaltung in Innenwelt des Menschen und Außenwelt des Fremden absolut konstruiert und ohne jede greifbare Basis.
Also das Ungreifbare, Unbewusste Thema werden lassen! Vor dem Konstrukt „Welt“ werden Unsicherheit und Angst des Menschen offenbar, aber auch die Verbindungen, die Welt und Mensch stetig zusammenwerfen. Es ist ein einziges Schwingen und Schwimmen im Naturball. Darin, darüber und eins sind Mensch, Tier und Pflanze.

Dergestalt, 2015.

Sexismen

Üblicher Sexismus: „Du bist eine Frau, du solltest nicht alleine nach Hause gehen. Ich gehe mit.“
Religiöser Sexismus: „Du bist eine Frau, du solltest nicht alleine nach Hause gehen, denn dein Körper muss vor Ungläubigen bewahrt werden. Ein Kind darf nur ich dir machen. Ich gehe mit.“
Nationalistischer Sexismus: „Du bist eine Frau, du solltest nicht alleine nach Hause gehen, denn dein Körper gehört unserem Volk. Kein Ausländer soll sich an dir vergehen. Ich gehe mit.“
Intellektualistischer Sexismus: „Du kannst dich der Tatsache nicht verschließen, dass dein Körper als weiblich zu klassifizieren ist. Es ist auch Tatsache, dass Frauen übermäßig oft auf dem Heimweg attackiert werden. Es wäre unverantwortlich, dich alleine gehen zu lassen.“
Gewaltfreier Sexismus: „Ich erkenne dich als Frau und denke, dass es Frauen in dieser Welt nicht leicht haben. Ich will dir meine Hilfe anbieten. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass jemand in dieser Welt mit dir geht.“
Romantischer Sexismus: „Ich gehe mit dir, komme was wolle!“
Surrealistischer Sexismus: „Eine Frau geht nach Hause. Ein Mann kann nicht anders. Ein Mann vergeht sich mit ihr.“

Dergestalt, 2019.

Aufwärmübung für das EINSAMEN-Theater

„Entschuldigung?“ mit der Antwort „Nein“. Ein Lachen für verschiedene Anlässe. Werbung als Preis des Kolonialismus. Ein Zacken als Fortführung des ewigen Teppichs. Trommeln ohne Unterpfand. Ein Arzt, krankhaft bedingt. Zucker in Röhren.
ARZT (keuchend): Warum?
„Nein“ mit der Antwort „Entschuldigung?“. Ein Anlass für verschiedenes Lachen. Kolonialismus als Preis der Werbung. Der ewige Teppich als Fortführung eines Zackens. Unterpfand ohne Trommeln. Ein Arzt, krankhaft bedingt. Zucker in Röhren.
Im Fenster flackert noch Licht. Einer hat es eingefangen. Im Dunkeln färbt sich ein Fisch. Der Arzt hinter trauriger Angel. Farbenfroh sein Gewissen.
MEIN FREUND: Darf ich bitten?

Dergestalt, 2011.

Buddha und der Beat – Zu Jack Kerouacs „The Dharma Bums“ (1958)

Die Kunst sucht sich Ekstase, Schwirren, manchmal sogar einen Beat. Und wer hat den Beat in den 50ern in die Literatur gebracht? Klar, Jack Keruac. Nur war der nicht bloß wild-romantischer amerikanischer Dichter, sondern auch stiller Buddhist, wollte es zumindest sein. Davon zeugt in jedem Fall sein Roman The Dharma Bums. Wie schon im Klassiker On the Road fiebert der Protagonist hier einem Idol hinterher. Diesmal ist es aber kein lebensgeiler Dean Moriarty, sondern der launenhafte Bergsteiger und Hobby-Buddhist Japhy Ryder. Zusammen erproben die beiden eine Mischung aus künstlerischer Ekstase und der Suche nach Nirwana, stiller Selbstgenügsamkeit.
Für mich mindestens interessant, mehr noch herausfordernd. Denn das ständige Überbieten, das Kunst für mich bedeutet, das ständige Hinterfragen und Auflösen passt ideal zu manchen Zugängen des Buddhismus, etwa zum Zen, der auf spielerisch-kreative Weise immer wieder die Herausforderung sucht. Gleichzeitig bleiben aber auch Widersprüche: Genügsamkeit, Stille und Verharren, vor allem das Wertungslose wollen nicht so ganz mit dem Begriff einer wilden, provozierenden Kunst. Den großen Karneval, den wir um unsere Existenz veranstalten, sieht der ruhige Blick des Meditierenden ohne Anteilnahme, die Kunst hingegen stürzt sich regelrecht hinein. Oder gibt es eine Kunst, die sich hier besser eignet? Im Falle Keruacs sind die unmittelbare Naturbegegnung und das Gebet die letzten und intensivsten Mittel der Selbstfindung, so bringt uns The Dharma Bums schließlich auf einen einsamen Berg. Die Heimkehr des Protagonisten am Ende bedeutet die Rückkehr eines Geläuterten, einer der eigentlich nicht mehr zu schreiben, sondern vor allem zu leben braucht. Aber braucht das Leben die Kunst?

Dergestalt, 2019.

Zur Überrealität!

Surrealismus bedeutet nicht die fantastische, vom Realen befreite Welt, sondern eine Welt, in der die Dinge im Realen verzerrt sind. Es ist ein Über-Realismus, der die Verfremdung noch inmitten des Gewohnten vornimmt. Hier sind es noch klare Örtlichkeiten, deutliche Begriffe, da werden sie schon merkwürdig schräg in ihren Proportionen. Die Bezüge zwischen Metaphorik und realer Welt verschwimmen auf diffuse Weise.
So muss man die Wirklichkeit attackieren! Man muss sie in den eigenen Elementen erfassen und noch tief in ihrer eigenen Substanz verfremden. Man muss die chemische Zusammensetzung unserer Welt erschmecken können, ehe man ihre Atome ein wenig verschiebt. Tut man das schließlich, entdeckt man auch, wie sich die Dinge verändern. Im grellen Gelb eines deutschen Ortsschildes etwa ergibt sich die Blutmischung eines kranken Kindes. Nur indem man die Stoffe der „eigentlichen“, realen Welt extrahiert, neu mischt, schafft man fundamental verunsichernde Situationen, die den nahen Schrecken, das Unheimliche heftig fokussieren. Irritierend wird das Irritierende erst, wenn man sich selbst halb darin befindet. Und Kunst muss irritieren.
Zur Überrealität!

Dergestalt, 2015.